Auftreten kann Spaß machen, Auftreten kann unendlichen Stress bedeuten. Musiker nutzen ihre Muskeln, um absolute Höchstleistung auf künstlerischem und auf körperlichem Niveau zu vollbringen. Auf den Punkt genau wenn die Aufnahme beginnt, wenn der Dirigent den Einsatz gibt oder wenn der erste Ton erklingt. Höher, schneller, weiter wäre für einen Musiker keinen falschen Ton zu produzieren, eine optimale künstlerische und interpretatorische Interpretation zu zeigen, am Besten auch noch sehr gut auszusehen, genug Energie zu haben und – locker und gelassen zu bleiben. Aufregung schadet leider nur und ist deshalb nicht gerne gespürt bei Konzerten.
Was passiert bei Aufregung? Der Kampf-Flucht-Reflex setzt ein…
In Urzeiten beim Kampf mit dem Dinosaurier war diese körperliche Reaktion noch voll angebracht: im Angesicht der Gefahr erhöht sich der Herzschlag,der Muskeltonus, also die innere Muskelspannung wird ebenfalls erhöht: Die hintere Körpermuskulatur wird mehr durchblutet und bereitet sich entweder auf Kampf oder auf Flucht vor. Viel Aktion ist gefragt, der Körper bereitet sich auf volle muskuläre Bewegungsenergie vor – und das ohne, dass wir er bewusst beschlossen hätten. Kampf oder Flucht: Entweder geht also das Blut vermehrt in die Beine, die Knie werden schlockrig und das Gesicht wird blass und der Körperwird auf möglichst schnelles Laufen vorbereitet. Das wäre im Falle des Musikers wohl das sofortige Verlassen der Bühne – hm, nicht sehr förderlich beim Musizieren… Oder das Unterbewusstsein schaltet um auf Angriff, das Blut geht vermehrt in den oberen Körper, das Gesicht läuft rot an, wir ballen die Fäuste zum Angriff und auch der Kiefer wird fest um zuzubeißen – da wird sich unser Dirigent wirklich wundern, wenn wir mit geballten Fäusten auf ihn zukommen um ihm in die Nase beißen.
Leider funktionierten diese Mechanismen ohne unser Zutun, viel schneller als unser bewusstes Denken sind die Botenstoffe mit ihren Aufgaben im Blut und schon geht der Kampf-Flucht-Reflex los. Beim Musizieren ist das äußerst lästig. Alle Instrumentalisten brauchen lockere Handmuskeln, um die schnellen Läufe sicher spielen zu können. Wenn die Muskulatur steifer wird zum Angreifen, dann ändern sich aufgrund der steiferen Muskulatur die gefühlten Abstände der Lagenwechsel oder der Sprünge. Wenn der Kiefer fester wird, dann reagiert die Lippenmuskulatur der Bläser anders und der Ansatz der Blechbläser unterscheidet sich zur entspannten Übesituation.
Wie geht man damit um?
Nun, zunächst kann man Auftreten üben! Das alleine Vorspielen vor dem Lehrer ist ja schon ein kleiner Meilenstein, das kleine Schülervorspiele vor den wohlwollenden Eltern und Großeltern ist auch ein vorzüglicher Ort, um das zu lernen. Weiter geht es dann mit kleinen Schulaufführungen und Mini-Konzerten. Der gesunde Boden für gelassene Auftrittssituation ist gelegt. Alles gut, wenn man gute Erfahrungen damit macht. Man kann relativ gelassen aufs Podium treten und vertraut seiner inneren Automatik, weil man bisher nichts Gegenteiliges erlebt hat. Alles wunderbar!
Leider sitzen aber schlecht gespielte Läufe, verpatzte Konzerte und der daneben gegangene hohe Ton ebenso sicher in den Knochen und Körperreaktionen wie die guten Situationen. Mit einem schlechten Gefühl von Versagensangst geht man auf die Bühne und muss dann da durch. Mental macht man sich klar, dass nach der Wahrscheinlichkeit man zu soundso viel Prozent alles richtig spielen wird, aber das körperliche Unterbewusstsein ist mächtiger und schneller. Die Situation wird als bedrohlich eingestuft und auf Kampf-Flucht-Reflex umgeschaltet. Zur mentalen Belastung kommt jetzt noch ein Körper hinzu, der sich langsam aber sehr sicher auf Gefahr vorbereitet. Das Herz schlägt einem bis zum Hals, der Bogen zittert auf der Geige, der Atem bebt und der leise Ton,der vorhin noch mit genau dieser Vorbereitung wunderbar wie aus dem Nichts erschien, bebt mit, zappelt, bricht ab oder kommt erst gar nicht. Leider hört das dann jeder im Publikum – und auch jeder der lieben Kollegen und das Unterbewusstsein schaltet noch mehr auf Kampf-Flucht-Reflex um. Irgendwann schaltet der Körper dann die nicht dominante Gehirnhälfte ab, um mehr Blut für den Reflex zu haben. Dann hat man entweder eine emotionale Gehirnhälfte, mit der man sich genial innerlich fertig machen kann und sich weit hinunter ziehen kann, oder man denkt nur noch logisch, zählt vor sich hin, macht einen Alleingang und spielt nicht mehr musikalisch. Die Interpretation und die Performance ist auf jeden Fall äußerst beeinträchtigt und man spielt nur noch so vor sich hin.
Wird es noch schlimmer, dann schalten beide Großhirnrinden ab und man spielt mit purem Kleinhirn. Die Bewegungen gehen also noch, aber man kann nicht mehr zählen, setzt falsch ein, verknoddelt den Text und findet dann die richtige Reihe in den Noten nicht mehr.
Leider sind alle diese Horrorszenarien vollkommen normal. Es sind wunderbare Körperreaktionen, die den Körper schützen und daher sind sie sinnvoll. Unter Kampf-Flucht –Reflex hat man viel mehr Kraft – man denke an Menschen, die in Verkehrsunfällen einfach das Auto anheben und die verletzte Person rausziehen. Ohne Kampf-Flucht-Reflex unmöglich! So schlecht ist der Reflex nicht, man kann auch viel schneller denken. Ich denke an eine Radioaufnahme von mir, bei der mir tausend schlechte Sachen bei meinem Musizieren aufgefallen sind, die später eigentlich kaum hörbar waren. Die Aufmerksamkeit ist erhöht, es fallen einem viel mehr Fehler auf, als wenn man zuhause vor sich hin übt und dabei durch die Wohnung spaziert und gleichzeitig überlegt, was man heute Abend kochen soll. Wir müssen mit diesem Kampf-Flucht-Reflex zusammenarbeiten, denn er gehört einfach dazu. Er kommt immer wieder bei Kleinigkeiten, die uns aus der Balance werfen, oder überhaupt beim Auftreten.
Wie kann man mit dem Kampf-Flucht-Reflex kooperieren?
Zunächst müssen wir unsere mentale Einstellung ändern. Es gibt nichts im Unterbewusstsein, was gegen uns arbeitet, selbst wenn wir zurzeit noch den Eindruck haben. Wenn wir umdenken und nicht beim ersten erhöhten Puls schon Panik bekommen, dann wird der Körper auch wieder gelassener. Wir müssen aus der immer enger werdenden Spirale herauskommen und umdenken. Je gelassener wir sind, desto überflüssiger wird der ganze Reflex. Also Atmen ist immer gut. Die Atmung ist Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein! Eine ruhige Atmung suggeriert dem Unterbewusstsein eine entspannte Situation und sie erdet uns wieder. Überhaupt ist Erdung nicht zu esoterisch zu sehen. Wenn aufgrund der hohen, teuren und super klasse aussehenden Schuhe die gesamte Körperstatik Amok läuft, dann können wir nicht mehr auf unsere Automatik zugreifen, denn diese steht ganz unten auf wackeligen Füßen… Üben Sie mit Ihren Konzertschuhen und gewöhnen Sie sich daran – oder gehen Sie barfuß auf die Bühne und erarbeiten Sie sich eine künstlerische Eigenart, die Sie bekannt machen wird. Ich habe schon im laufenden Liederabend die Schuhe ausgezogen und dies kommentiert – worauf zahlreiche Damen im Publikum auch die hübschen Schühchen ausgezogen haben – eine tolle Situation. Es geht um die Musik und nicht um die Schuhe! Wir brauchen Basis (SchuhErdung (verlässliche Statik), Gelassenheit (Atmung) und dann wird die Situation schon viel erträglicher!
Und im Vorfeld können wir den Körper schon entspannen.
Tatsächlich kann man viel tun, um im Körper eine lockere muskuläre Spannung vorzubereiten. Wenn man ja weiß, wie der Kampf-Flucht-Reflex abläuft, dann kann man gezielt die betroffenen Muskeln im Vorfeld bewegen und dehnen – um die Versteifung wieder aus dem Körper herauszubekommen. Das Merkwürdige ist nämlich, dass die Botenstoffe erst einmal verbraucht werden möchten, bevor ihre Wirkung verpufft. Bewegt man sich nicht, dann bleibt der Körper in dem alarmierten Zustand und wird immer steifer und steifer. Wenn wir vor dem Konzert uns dehnen, die Arme ausbreiten, uns mal nach vorne fallen lassen, dann wird der Kampf-Flucht-Reflex regelrecht aus dem Körper rausgeturnt und er bleibt beim Konzert entspannt. Ehrlich, ich verspreche es! Turnen Sie hinter der Bühne, wärmen Sie ihren Körper auf und erarbeiten Sie sich einen gelassenen, aber unternehmungslustigen Körper für Ihre Musik. Dehnen Sie die hintere Körpermuskulatur mit Bewegungen nach vorne. Das wird der Beweglichkeit Ihrer Arme, Hände und auch Ihrer Stimme oder Kiefermuskulatur sehr gut tun.
Turnen Sie sich vor dem Konzert locker, begrüßen Sie innerlich den Kampf-Flucht-Reflex, weil er Ihnen mehr Kraft schenkt und Ihnen schnellere Reaktionen beschert – und genießen Sie dann Ihr nächstes Konzert!!!