Warum die Körperhaltung des Dirigenten Auswirkungen auf Ausdruck, Klang, Interpretation und sogar die Obertöne des Chores hat.

Dirigieren ist einfach: Man gibt den Auftakt, zählt 1,2,3,4 vor, schlägt runter und dann sind ja wohl hoffentlich alle dabei. Der Dirigent steht alleine vor dem Ensemble mit dem Rücken zum Publikum, anscheinend hat er viel zu sagen und zu regeln mit dem Ensemble. Und es gibt so viele unterschiedliche Dirigenten: Der Eine dirigiert sich komplett schweißgebadet aus dem Hemd, der Andere schnippt nur ein wenig im Takt mit den Finger und ein Dritter sitzt komplett nur am Klavier. Aber er hat viele Funktionen:  Immerhin soll er ja dafür sorgen, dass alle gemeinsam beginnen, zusammen aufhören, er darf bestimmen, wann es leise und wann laut sein soll. Der Dirigent zeigt die Tempowechsel und hilft dabei, die Einsätze zu finden. So weit, so klar. Schon eine ganz schön große Aufgabe, aber es kommt noch viel mehr dazu: ich habe viele erfolgreiche Orchesterdirigenten gesehen und erlebt, die keine Ahnung davon haben, wie ein Chor zu formen ist, ganz zu schweigen von einem Laien-Chor. Chordirigent ist ein Spezialberuf, denn der Dirigent einen Chores ist auch für die Klangfarbe des Chores zuständig. Er kann einem Chor zu Klangfülle verhelfen oder er kann den Chor in einen farblosen, matten oder plärrenden Klangwubbel verwandeln – und zwar allein durch seine Bewegungen:

Volker Hempfling

Der Dirigent eines Chores kommuniziert mit Augen, Körperhaltung, Armen und Händen, ja mit seinem gesamten Körper, sogar über seine Atmung. Seine Körpersignale übertragen sich über Spiegelneuronen auf das Unterbewusstsein jedes einzelnen Sängers, ganz ohne das direkte Denken. Klang, Atmung, Intonation und Obertöne seiner Sänger formt der Dirigent alleine durch seine Körperhaltung.

Dabei ist es belanglos, was er dann noch versucht, stimmlich über die Klangfülle des Chores in die Probe oder ins Konzert zu schreien: Das Unterbewusstsein steuert mehr Muskeln beim Singen als das Bewusstsein und daher laufen unendlich viele Prozesse unterhalb des Bewusstseins ab, eben über Spiegelneuronen.

Was um Himmels Willen sind denn Spiegelneurone? Das hat man als Musiker in der Ausbildung nicht gelernt!

Spiegelneuronen sind Nervenzellen im Körper und diese genial arbeitenden Nervenzellen senden Ihre Reaktion zum Körper alleine durch zuschauen aus. Man kennt es, wenn sich jemand weh tut, oder wenn ein anderer hinfällt, dann zuckt man selbst zusammen, teilweise empfindet man eine eigene heftige Körperreaktion, ohne dass dem eigenen Körper irgendetwas passiert ist. Oder wenn Musik einen zu Gänsehaut rührt, wenn uns ein Film zum Weinen bringt… – willkommen in der Welt der Spiegelneuronen. Kindererziehung geht auch weitestgehend durch Vorbild, also anschauen, und Imitation, also Leitung der Aktion durch Spiegelneuronen. Der Körper erzeugt über die Spiegelneuronen ein Imitieren, ein Mitschwingen, ein Hineindenken und die komplette Palette der passenden Hormone, Botenstoffe und Muskelreize dazu.

Da sich unsere Chorsänger in Konzertsituationen unendlich auf uns einlassen, werden unsere dirigentischen Körperreaktionen komplett imitiert, unsere Haltung wird angenommen, die gleichen Muskeln werden angespannt, durch Empathie kommt auch der gleiche Gesichtsausdruck auf die Gesichter, im positiven und negativen Sinne!

Es ist eine direkte Kommunikation vom Körper des Dirigenten mit dem Unterbewusstsein unserer Sänger, ein magisches, aber unendlich starkes Band vom Dirigenten zu jedem einzelnen Sänger. Als hätten Sie die Zügel zu jedem Ihrer Sänger in der Hand und würden sein komplettes Körpersystem leiten.

Finden Sie das übertrieben? Dann überlegen Sie mal: Sie beeinflussen Körperhaltung, Atmung, Lockerheit, Gesichtsmimik und was nicht sonst noch alles… Sie haben eine unendliche Verantwortung in Ihrem Körper, in Ihren Armen und Händen. Das ist das magische Band des Chordirigierens – unendlich wirkungsvoll und faszinierend!

Martin Folz

Um das Unterbewusstsein machen viele Menschen einen großen Bogen und fürchten um irgendwelche dunklen Mächte, die darin wohnen und uns beeinflussen könnten. Aber das Unterbewusstsein arbeitet ohnehin die ganze Zeit für uns – und sehr wirkungsvoll: Viele Muskeln des Unterbewusstseins sind beim Singen beteiligt: Kehlkopf, Stimmbänder, Kehlkopfstellung, Atmung, innere Offenheit, ja sogar die Stellung des Gaumensegels werden vom Unterbewusstsein gesteuert. Und diese beeinflussen Sie nur, indem Sie sich vor den Chor stellen!!! (Natürlich nur, wenn der Chor mit Ihnen durchs Feuer geht und nicht müde vor Ihnen herumgähnt! Dann gehen die Sänger nicht in Resonanz, sondern sitzen nur müde die Chorprobe ab. Dann können Sie ja auch einen Gang runter schalten, sich hinsetzen und einfach Töne proben.) Aber ansonsten schaffen Sie durch Ihren Körper, durch Ihre Atmung, durch Ihre Augen, durch Ihre Arme und Hände die Basis für stimmliche Arbeit in jedem Ihrer Sänger.

Arme, Hände und Schultern:

Die Arme beim Singen (… auch darüber kann man einen Artikeln schreiben, man weiß ja ohnehin nicht genau, wo man während des Singens am besten seine Arme hinmachen soll, die sind ja irgendwie komplett überflüssig, allein deswegen streiken manche Sänger beim Thema auswendig singen, dabei wäre der Klang um ein vielfaches besser – aber bleiben wir mal beim Dirigieren) also die Arme beim Dirigieren sind essentiell: Als Dirigent soll man lautlos (… auch über brummende Dirigenten könnte man einen Artikel schreiben… ok, ich konzentriere mich…) über Arme und Hände die eigenen Ideen zur Musik zeigen, sodass der Chor diese abnehmen und ausdrücken kann. Aber oft bleibt die Aufgabe beim Dirigieren hängen bei verzweifelten Einsätzen zu Sängern geben,  die entweder schon groß blickend losgesungen haben oder die noch gar nicht eingeatmet haben und daher auch nicht bereit sind zu singen. Sie atmen hektisch mit einer hohen Schulteratmung ein und setzen dann ein Viertel versetzt mit engem Stimmklang ein, um mehr kaputt als ganz zu machen… Sind wir doch realistisch: Wir arbeiten alle mit Laien-Chorsängern, die weitestgehend keine Noten lesen können und sich daher auf ihr Gehör und auf ihr Gefühl verlassen. Das ist grundsätzlich nicht wirklich schlimm, es dauert halt länger ein Lied zu beherrschen. Aber auch unter noten-unkundigen Sängern finden sich prachtvolle und unendlich zuverlässige, sichere Sänger und wir Dirigenten freuen uns auf Euch in jeder Probe. Aber diese Sänger müssen mehr geleitet werden, als man denkt. Es hilft nichts zu sagen: „Da müsst Ihr an die Punktierung denken!“ Was auch immer da für kleine, dunkle Punkte sich auf den Linien rauf und runter bewegen, meistens entscheidet das Ohr und das Gefühl über den echt gesungenen Ton. Womit wir nicht beim bewussten Denken, sondern wieder im Unterbewusstsein wären. Und dieses Unterbewusstsein ist sehr, sehr aufmerksam: Da nutzt es nichts, piano zu verlangen, wenn die Bewegungen zu groß sind! Das passt nicht zusammen folgert das Unterbewusstsein und reagiert mit Ignoranz oder Unwohlsein. Gruselfilme arbeiten oft widersprüchlichen Symbolen und erzeugen so eine gruselige Stimmung. In diesen Situationen können unsere Chorsänger auf jeden Fall nur die Muskeln befehligen, die zum direkten Denken gehören. Diese Muskeln sind für Bewegungen im Raum zuständig, aber nicht für Atmung, Kehlkopfabsenkung oder wirklich gute Körperspannung! Arbeiten Sie bewusst mit korrespondierenden Zeichen: Geben Sie einen großen Forte-Einsatz, um eine große Einatmung zu bekommen, geben Sie einen kleinen Einsatz, um ein schönes Piano zu erreichen. Achten Sie auf zusammen passende Informationen!

Christian von Blohn

Und wie kommt jetzt Klangfülle in den Chor? Indem der Körper des Dirigent schon die richtige Körperfunktion hat!

Unsere Chorsänger imitieren uns: Sie atmen ebenso wie der Dirigent entweder als tiefe Bauchatmung ein und erreichen somit eine gute Zwerchfellabsenkung und damit verbundener lockerer tiefer Kehlkopfstellung oder sie atmen genauso verkrampft ein, wie der Chordirigent sich im ersten Moment vor dem neuen Orchester fühlt: einsam, verkrampft, aufgeregt und mit zu hoher körperlichen Anspannung. Er ist mit sich selbst beschäftigt, hat eine introvertierte, kämpfende Körperhaltung und überträgt dies nicht wissend auf seinen Chor. Damit wäre auch bewiesen, warum die ersten Proben mit Chor und Orchester immer eine Leistung des Chores zeigen, die weit unter dem normalen Niveau liegen. Sonst hat man den Dirigenten für sich, heute muss man ihn teilen mit Pauken und Trompeten, mit Sitzplatzverteilung der VIP’s, mit Ticket-Organisation und, und, und.

Der Stress setzt sich Im Dirigent fest, er ist entsetzt, wie schlecht sein Chor geworden ist und fängt an Standpauken zu halten. Betrübt blicken unsere lieben Chorsänger und bemühen sich, es mit mehr Einsatz besser hinzubekommen – mit den Muskeln, die zum Bewusstsein gehören, und dies sind immer noch die falschen Muskeln… Wie kommen wir da raus und wie kommen wir zu einem schönen Konzert?

Wir müssen kooperieren mit unserer eigenen tiefen Atmung, mit unserem Körper, mit Lockerheit und mit genug positiver Spannung. Und der erste, dem dieses gelingen muss, ist der Dirigent!!!

Aber Gott sein Dank sind Dirigenten meistens ausgebildete Musiker. Ein Musiker, der sein Handwerk versteht, der hat auch Körpermanagement. Er kann umschalten auf Bauchatmung. Er kann sich gerade richten auf dem Podium. Er hat das in seiner eigenen Ausbildung gelernt, sei er nun Instrumentalist, Dirigent oder Sänger. Musiker haben es gelernt, mit dem eigenen Körper zu arbeiten. Aber Chorleiter haben keine Ahnung, welche weitreichenden Auswirkungen dies auf ihr Ensemble haben könnte.

Warum ich das alles weiß? Ich bin Sänger, ich bin Stimmbildner – und ich bin Chordirigentin. Ich habe jahrzehntelang erlebt, wie man sich fühlt, wenn zu viel Druck vom Dirigenten ausgeht, ich habe erlebt, was ein Dirigent mit zu wenig Körperspannung alles für verzweifelte Verrenkungen macht, damit sein eigener Chor nicht sinkt. Da werden Finger in den Himmel gehoben und da werden die Töne zu hoch vorgesungen, da wird laut auf das Klavier gehauen – ohne Erfolg. Ich habe unzähligen Dirigenten klar gemacht, dass ihre Körperhaltung mehr Auswirkungen auf Intonation und Klang des Chores hat, als sie sich selbst vorstellen konnten. Im Prinzip ist es dem Chorsänger egal, ob die „1“ immer nach unten geschlagen ist, er will seine Musik, die Ausdrucksspannung des Textes in den Augen und im Körper des Dirigenten sehen, weil es ihm hilft. Er ist eben nicht der Profi-Sänger, der einfach auf seine Technik zurückgreifen kann. Er ist nicht der Instrumentalist, dessen Instrument ohnehin einen guten oder mittelmäßigen Klang hat, daher braucht er diese Unterstützung. Nur damit ich es noch einmal betont habe: Natürlich brauchen auch Instrumentalisten einen inspirierenden Dirigenten, aber ich möchte mich hier auf das Thema Chor beschränken. Die meisten Chorsänger habe eine gewisse Ahnung, was richtige Atmung ist und wie gute Stimmführung abläuft. Aber das Wissen um die Technik fällt regelmäßig komplett wieder zusammen, wenn sich die Akustik, der Raum oder einfach nur die Choraufstellung ändert. Dann haben wir wieder eine Hochatmung, keine Atemführung, keine Tonformung und wir haben plötzlich einen Chor, der drückt, um die Töne zu stemmen, statt einen vollen Klang zu formen oder einen Chor, der plötzlich schleppt, zu leise ist und sich ängstlich im Raum umschaut, statt Klang zu produzieren.

Wenn dem Dirigenten beim Auftakt die Armen am Körper kleben, dann kann man von seinen Sängern nicht erwarten, dass diese freie Zwischenrippenmuskeln haben und mit weiten Flanken singen. Selbst für mich als Profi-Sänger ist das dann schwieriger und ich mogele mich dann durchs Konzert mit liebevollem Ignorieren des Dirigenten. Üben Sie sich in „Luft unter den Armen“, damit Sie Ihrem Chor einen freien Oberkörper ermöglichen können. Natürlich können Sie so nicht alle Blockaden und Fehler ihres Chores wegzaubern. Das wäre illusorisch, aber Sie können das Ergebnis um ein vielfaches verbessern!

Körperhaltung:

Denken Sie nicht, dass Ihre Sänger gerade stehen, wenn Sie sich übers Klavier gebeugt noch schnell ein Vorspiel aus den Fingern ziehen. Der Choreinsatz wird nicht gut sein, ich garantiere es Ihnen, obwohl ich es nicht gehört habe. Gönnen Sie sich nach dem Vorspiel eine Pause (Pausen sind ja bekanntlich auch Musik), richten Sie sich auf, stellen Sie sich gut hin (und dann werden Sie schon bemerken, wie einige Ihrer Sänger es ihnen gleich tun), atmen Sie ruhig und mit offenem Mund ein und dann geben Sie den Einsatz – diese zwei Sekunden zusätzlich werden sich klanglich mehr als lohnen.

Was beten Sie Ihren Sängern immer vor: gerade stehen, lächeln, Mund auf – aber achten Sie einmal auf Ihren eigenen Körper – wenn Sie es nicht richtig vormachen, dann wird das niemals herzustellen sein. Jeder Gesangslehrer weiß: alle Fehler, die man selbst in sich hat, wird der Schüler imitieren, nichts anderes macht Ihr Chor! Gutes Stehen, Atmung, Stütze, Mund auf, Textverständlichkeit, Lächeln… alle diese Dinge sollten Sie zuerst einmal bei sich selbst abchecken. Genießen Sie die Chorproben im Winter: meistens hat man mindestens eine Glasscheibe vor sich, in der man sich abends im Licht selbst beobachten kann: Sind Ihre Schulter unten? Machen Sie den Mund auf? Atmen Sie wirklich tief in den Bauch ein? Haben Sie Spannung beim Dirigieren?

Sogar die generelle Haltung Ihrer Arme beim Dirigieren hat immensen Einfluss auf die direkte Zwerchfelltätigkeit Ihrer Sänger. Halten Sie ihre Arme zu hoch, dann suggerieren Sie eine Hochatmung. Sind die Arme zu tief vor dem Körper positioniert, dann sieht sie keiner der Sänger und sie haben keine Spannung. Emma Kirkby erarbeitet bei ihren Sängern immer eine Armhaltung auf Höhe des Zwerchfells und dieses ist viel mehr innerviert, als wenn die Arme einfach nur herunter hängen.

Bedenken Sie dass unser Kehlkopf sehr beweglich ist. Er ist komplett in die Schulter-Nacken-Brustkorb-Muskultur integriert. Wenn Sie also einen Stimmklang haben möchten, der mit weiter Kehle gesungen wird, dann müssen IHRE Schulter entspannt sein. Tatsächlich sind alle Registerübergänge der Stimme abhängig von einem lockeren Kehlkopf und freien Schulter. Wenn Ihnen also Ihr Chorklang nicht gefällt, weil er gedrückt, flach und eng ist, dann sollten Sie als ersten folgendes tun: Ihre Schultern absenken bei Dirigieren und auf eine tiefe, weite Atmung umschalten. Vergessen Sie niemals die wichtigen Spiegelneuronen. Durch Ihr Vorbild erlangen die Chorsänger erst die Basis, in den Schultern einen guten Kontakt der Stimme zu Atmung und Körper zu erarbeiten. Erst dann!!! können Sie verlangen, dass durch die Atmung die Stimme lockerer wird. Vorher können Sie es predigen, aber Sie haben keine Resonanz in den gegenüberstehenden Körpern. Ihre Körper können es nicht ändern, weil die Spiegelneuronen in deren Köpfen etwas anderes verlangen.

Und bei einem Konflikt zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein wird immer das gemacht, was das Unterbewusstsein zu tun gedenkt. Das ist Fakt im menschlichen Körper.

Zurück bleibt eine fade Chorprobe ohne Ergebnis und ohne gegenweite Resonanz, ohne Freude – das gibt es auch, aber es ist nicht angenehm. Und nun wünsche ich viel Spaß bei allen neuen Aufgaben, die Sie schon längst übernommen haben und anleiten. Ein Hoch auf die Spiegelneuronen, denn sie sind wirkungsvoller und schneller als jede logische überlegte Körperreaktion.

Bringen Sie also Ihren Chor zum Klingen, in dem Sie sich selbst zu Klingen und zum Strahlen bringen!

Autorin: Eva Maria Leonardy